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Disziplinarrecht in Hamburg: Die Einheit des Dienstvergehens


Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens

Mehrere Pflichtverletzungen eines einzelnen Beamten bilden, wenn sie zeitgleich verfolgt werden, letztlich ein einheitliches Dienstvergehen. Dies bedeutet,

- dass sie in einem einzigen Verfahren zu verfolgen sind und

- dass nicht für jede einzelne Pflichtverletzung eine Disziplinarmaßnahme bestimmt, sondern nur eine einheitliche Disziplinarmaßnahme verhängt werden darf.


Nur durch eine Gesamtbewertung aller angeschuldigten Dienstpflichtverletzungen kann - nach allgemeiner Ansicht - die im Disziplinarverfahren gebotene Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Beamten vorgenommen und kann die Frage beantwortet werden, ob das Vertrauensverhältnis zwischen dem Dienstherrn und dem Beamten endgültig zerstört und dieser deshalb aus dem Dienst zu entfernen ist.

Der Grundsatz gilt nicht mehr uneingeschränkt

Es gibt zunehmend Durchbrechungen dieses früher "ehernen" Grundsatzes.
So erlauben §§ 19 und 56 BDG und §§ 28 II und 53 HmbDG Beschränkungen des Disziplinarverfahrens, indem solche Handlungen ausgeschieden werden können, die nach Art und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme voraussichtlich nicht ins Gewicht fallen würden.
Die Rechtsprechung hat dies zum Beispiel wie folgt formuliert:
"Wiegt bereits eine der dem Beamten vorgeworfenen und erwiesenen Dienstpflichtverletzungen so schwer, dass sie schon für sich genommen die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis rechtfertigt, bedarf es der ergänzenden Hinzuziehung und Aufklärung weiterer im Raum stehender Pflichtverletzungen nicht mehr, da die darin enthaltenen Vorwürfe - sofern zulässig erhoben und erwiesen - allenfalls geeignet wären, das bisher bereits gewonnene und eine Dienstentfernung rechtfertigende Gesamturteil über die Persönlichkeit des Beamten zu bestätigen."
(OVG NRW in einer Entscheidung vom 10.12.04 - 6d A 1663/03.O)

Die Position des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2021

Die aktuelle Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich aus folgenden Beschluss:

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 11.10.21 - BVerwG 2 A 9.20 -

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Wie den Beteiligten in einem Berichterstatterschreiben mitgeteilt worden ist, bestehen gegen die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Disziplinarverfügung Bedenken zumindest hinsichtlich der Maßnahmebemessung, § 13 BDG, weil die überlange Dauer des Disziplinarverfahrens nicht in die Maßnahmebemessung eingeflossen ist. Dieser Aspekt - der im Widerspruchsbescheid bei den Erwägungen zur Maßnahmebemessung nicht erwähnt ist - ist entgegen der Auffassung der Beklagten in der Klageerwiderungsschrift auch nicht deshalb ohne Bedeutung, weil während des laufenden Widerspruchsverfahrens ein zweites Disziplinarverfahren gegen den Kläger eingeleitet und dann im Hinblick auf das sachgleiche strafrechtliche Ermittlungsverfahren ausgesetzt worden ist.
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Zwar war der Dienstherr in dieser Lage nicht durch den Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens gezwungen, beide disziplinarrechtlichen Vorwürfe in nur einem Disziplinarverfahren zu prüfen und ggf. zu ahnden. Denn unter der Geltung des Bundesdisziplinargesetzes gebietet der Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens - anders als nach der früheren Bundesdisziplinarordnung - nicht mehr die gleichzeitige Entscheidung über mehrere Pflichtverstöße eines Beamten. Dem Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens ist nicht mehr vorwiegend durch bestimmte Verfahrensweisen, sondern materiell-rechtlich durch die abschließende Würdigung der Dienstpflichtverletzungen des Beamten Rechnung zu tragen; bei der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme im letzten von mehreren aufeinander folgenden Verfahren ist eine einheitliche Würdigung des gesamten Dienstvergehens vorzunehmen. Ist bereits ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ergibt sich der Verdacht weiterer Dienstpflichtverletzungen des Beamten aufgrund eines anderen Sachverhalts, so ist die zuständige Stelle verpflichtet, entweder ein weiteres Disziplinarverfahren einzuleiten oder das bereits laufende Verfahren auf die neuen Handlungen auszudehnen (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 29.07.09 - 2 B 15.09 - Rn. 6 ff. und vom 27.12.17 - 2 B 41.17 - jeweils m.w.N.).
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Dementsprechend musste im vorliegenden Fall der Dienstherr den neuen disziplinarrechtlichen Vorwurf zwar nicht in das laufende Disziplinarverfahren einbeziehen, sondern durfte ein zweites Disziplinarverfahren eröffnen. Allerdings war es dann auch seine Pflicht, das - erste und im vorliegenden Fall streitgegenständliche - Disziplinarverfahren entsprechend dem Beschleunigungsgebot des § 4 BDG zügig zum Abschluss zu bringen. Geschieht das nicht, kann dies bei entsprechender Verfahrensdauer eine Milderung der Disziplinarmaßnahme ermöglichen und gebieten.
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Denn anders als bei einer statusbeendenden Disziplinarmaßnahme kann bei einer pflichtenmahnenden Disziplinarmaßnahme im Falle einer überlangen Verfahrensdauer das disziplinarrechtliche Sanktionsbedürfnis gemindert sein, weil die mit dem Disziplinarverfahren verbundenen beruflichen und wirtschaftlichen Nachteile positiv auf den Beamten eingewirkt haben. Dann kann aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine unangemessen lange Verfahrensdauer bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme mildernd zu berücksichtigen sein (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 28. Februar 2013 - 2 C 3.12 - BVerwGE 146, 98 Rn. 54 m.w.N.).
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Eine überlange Dauer des - hier: behördlichen - Disziplinarverfahrens dürfte bei einem sachlich nicht gerechtfertigten Untätigbleiben im Widerspruchsverfahren über fast sechs Jahre hinweg ohne Weiteres anzunehmen sein. Damit dürfte die Disziplinarverfügung in der Gestalt des Widerspruchsbescheids rechtswidrig sein. Zumindest im Hinblick auf die überlange Verfahrensdauer dürfte im Übrigen auch eine geringere Geldbuße als die im Widerspruchsbescheid ausgesprochenen 500 € nicht in Betracht kommen.

Im Gegensatz zu früher ist es jetzt also möglich, dass mehrere Disziplinarverfahren nebeneinander oder nacheinander geführt werden, wenn Vorwürfe zu unterschiedlichen Zeitpunkten bekannt werden und die neuen Vorwürfe nicht in ein bereits anhängiges Disziplinarverfahren einbezogen werden.
 
Auf der anderen Seite können später bekannt werdende Verfehlungen noch mit in das laufende Disziplinarverfahren einbezogen werden, etwa durch eine Nachtragsdisziplinarklage nach § 53 I BDG.
Fallen die Ergänzungen für die Entscheidung nicht ins Gewicht, kann man sie ausklammern.
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